monkey. / Schallter
VÖ: 03.06.2016
SCHALLCD003
Vertrieb: Rough Trade
Kontakt: monkey.
WIENER NEUSTADT
polarisiert. Schon seit Langem. Man liebt es oder hasst es. Tatsache ist: für einen kurzen Moment in der Kunst- und Musikgeschichte Österreichs war die selbstbewusste Vorstadt des Wasserkopfs Wien ein absoluter Hot Spot. In den Kellern, Galerien und Probelokalen Wiener Neustadts erklangen Texte, Töne, Zwischentöne, die dringlicher, schärfer und tiefgehender waren als so manche ihrer Vorlagen aus England und den USA, jedenfalls interessanter als das Gros der „Neuen Welle“ aus Wien, Graz, Linz & Co.
Diese – kurze, aber heftige – Episode der heimischen Pop-Historie verdient es knapp drei Jahrzehnte später, penibel dokumentiert, diskutiert und neu bewertet zu werden. Was hiermit passiert: UND ES FÄNGT VON NEUEM AN...
Im Zentrum der Retrospektive stehen legendäre Bands wie X-BELIEBIG, DÄMMERATTACKE, WESTBLOCK, CHIEFS, ZERBRECHLICH und einige mehr. Der Punk- und New Wave-Bewegung der frühen achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zugehörig, intensiv, ja hyperaktiv präsent, doch kurzlebig. In ihrem Windschatten erregten wenige Jahre später Neustädter Musiker als THE BATES, ZIP GUNS und UNITED LOVE AFFAIRS lokale Aufmerksamkeit. Wobei „lokal“ den Wirkungsradius bis weit über die Stadt-, Landes- und Staatsgrenzen hinweg zieht.
Die Musikszene bildete auch das Biotop für weitere kreative Kräfte. So war die (Mode-)Couture von GABI REINDL alias EMY PEEL, die später für Castelbajac arbeitete, international erfolgreich. Die zeichnerischen Werke von BÄRBEL KOVACS, die Maskenbilder von JUTTA RUSSELL („Saving Private Ryan“, „Harry Potter“ etc.) und die ambitionierten Filme von UTE MÜRWALD-BACHNER fanden ebenso Beachtung und Anerkennung, mitunter fern der Heimat. Warum passierte das alles ausgerechnet in der Kleinstadt am Steinfeld? Einer Metropole, die seit jeher im geographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Schatten von WIEN steht?
Antworten müssen Zeitzeugen liefern. Und zwar, solange sie auskunftsfreudig und, ja, noch am Leben sind. Der Doku-Film „UND ES FÄNGT VON NEUEM AN“ geht etwa der Frage nach, warum die Platten von damals in internationalen Sammlerkreisen heute Rekordpreise erzielen. Denn sie stehen in scharfem Kontrast zum Mainstream jener Jahre. Für musikbegeisterte DILETTANTEN lag es in weiter Ferne, auf der Bühne zu stehen, geschweige denn, Tonträger zu produzieren oder auf Tour zu gehen.
Die Revolution im Namen von PUNK und NEW WAVE setzte eine Zäsur, weil sie die künstlerische Selbstermächtigung befeuerte, die Dissonanz liebte und das Prinzip „Do It Yourself“ ausrief. Kommerzielle Überlegungen blieben, wenn
überhaupt, zweitrangig. Echtes Wollen vorausgesetzt, war es nicht nur möglich, sondern nachgerade logisch, als Band mit Live-Gigs ein Publikum zu erobern und eine Indie-Veröffentlichung auf die Beine zu stellen. Konsequent zurückverfolgt hat alles, was folgte, in der Aufbruchsstimmung jener Jahre seinen Ursprung: GRUNGE, HIPHOP, TECHNO, HARDCORE, DRUM & BASS... You name it.
Man muß kein Musikwissenschaftler sein, um die Basis zu benennen. Als 1977 vor allem in England PUNK und NEW WAVE explodierten, sprang der Funke unangepasster Musik von der Insel auf den europäischen Kontinent über. Er traf in Deutschland (DAF, Der Plan, Fehlfarben, Einstürzende Neubauten u.v.a.), Österreich (Pöbel, Tom Pettings Hertzattacken, Chuzpe, Minisex, Willi Warma, A-Gen 53 u.a.) – und eben speziell auch in WIENER NEUSTADT – auf offene Ohren, mutige Nachahmer und willige Empfänger. Spätestens 1980 dampfte es in diversen Wiener Neustädter Kellern. Musik musste sein. Kunst kam nicht von Können, sondern aus tiefstem Herzen. Handwerkliche Virtuosität erschien eher hinderlich. Die hiesigen Protagonisten reüssierten dennoch und veröffentlichten eine Handvoll Tondokumente auf Labels wie Panza Platte und Schallter (einem Sublabel der Majors BMG/Ariola). Dennoch: bereits 1982 zerbrach das Triptychon der Vorzeige-Bands X-BELIEBIG, DÄMMERATTACKE und ZERBRECHLICH (sic!)
Ab 1983 ertönten neue Band-Projekte von Proponenten aus der „Gründerzeit“. Der Freundeskreis im Umfeld der Bands vulgo „Die Szene“ wuchs. 1985 ging es erneut auf die Kleinkunstbühnen, die die Welt bedeuteten. Die Neustädter Fans scheuten weder Kosten noch Mühen, um ihre Bands (BATES MEN, ZIP GUNS, UNITED LOVE AFFAIRS) live zu sehen und abzufeiern. In Ermangelung heimischer Auftrittslokale (Ausnahme: SNACK-BAR WRENKH) wurden nahe liegende Kulturstätten und Lokale wie etwa die CSELLEY MÜHLE (Oslip), der MARTINSHOF (Eisenstadt), KUCKUCK (Neunkirchen) und KAMAKURA (Oberwart) und im nächsten Schritt auch das U4, die ARENA und das CHELSEA im nahen und doch so fernen Wien gefunden, gekapert, gefeiert und – im wahrsten Wortsinn gründlich – bespielt.
Die Wr. Neustädter Truppe wurde so nicht nur bei den Gastronomen zur Legende, sondern auch zu einem medial zitierten PHÄNOMEN. In Hundertschaften zogen die Fans damals quer durch die Bundesländer bis nach Vorarlberg, im Tross von The Bates schließlich auch nach Deutschland, Italien, die Schweiz und durch die damals noch kommunistischen Nachbarländer Ungarn, Tschechoslowakei und Jugoslawien. „Die Neustädter kommen!“ hieß es bis Mitte der 90er! Wie das klang, wer welche Rolle spielte und welche Auswirkungen der musikalische, ideologische und hedonistische Zeitgeist jener Jahre bis heute zeitigt, ist hier (und auf Film bzw. DVD) explizit festgehalten.
Mehr noch: im Rahmen des Projekts UND ES FÄNGT VON NEUEM AN... trafen sich einige Protagonisten der damaligen Szenenbands wieder, ließen sich vom Glanz und Glitter der eigenen Vergangenheit betören, ohne die dunklen Kapitel – und die gab es in der „depressiven Ecke“ (Werner Geier, Ö3- „Musicbox“) zuhauf – zu verdrängen, und beschlossen, das Liedgut jener Ära einer Gegenwartstauglichkeitsprüfung zu unterziehen. So entstand zusätzlich zur konzentrierten Historiensammlung von „UND ES FÄNGT VON NEUEM AN...“ ein zweites Album. Fünfzehn Songs von drei der erfolgreichsten Wiener Neustädter Bands der frühen 80er Jahre (X-BELIEBIG, DÄMMERATTACKE und BATES) werden ausschließlich von ehemaligen Musikern dieser Bands nochmals inspiziert und interpretiert. Das Vehikel für diese Neuaufnahmen nennt sich bezeichnenderweise TOTGEGLAUBT.
Kann man den Spirit von Punk und New Wave wieder beleben? Den neongrellen Zeitgeist jener Tage mit dem dunklen Schlund der Gegenwart verbinden? Ewig seine Jugend verschwenden? Man höre, fühle, urteile selbst. Die Totgeglaubten, so unser Urteil, sind quicklebendig. Und haben viel zu sagen, ohne Sagen zu erzählen. Rock’n’Roll!
Walter Gröbchen/Thomas Guth
Präsentation:
02.06.2016 – Album- & Film-Präsentation in der Arena, Wien